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#MiSA Report: Sozialhilfebezug als Risiko
Armut ist für einen nicht unbeachtlichen Teil der Bevölkerung eine akute Bedrohung – nicht erst seit der Coronakrise
"Armut ist für einen nicht unbeachtlichen Teil der Bevölkerung eine akute Bedrohung – nicht erst seit der Coronakrise. Umfragen zeigen, dass legal in der Schweiz lebende Ausländer*innen aus Angst vor aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen bewusst auf staatliche Hilfe verzichten. Dadurch wird der in der Sozialhilfe verankerte Integrationsauftrag faktisch unterminiert – für Sozialarber*innen keine einfache Situation."
Hinter der Angst vor einem Sozialhilfebezug steckt eine komplexe Verschränkung von migrations- sowie integrationspolitischen Massnahmen und der Sozialhilfe, die sich in den vergangenen zwei Jahren akzentuiert hat. Mit der letzten Revision des Ausländer- und Integrationsgesetzes im Januar 2019 wurden Integrationskriterien definiert, deren Erfüllung Voraussetzung für den Aufenthalt von Ausländer*innen in der Schweiz ist. Massgebend ist insbesondere die finanzielle Autonomie. Konkret bedeutet das für Menschen ohne Schweizer Pass, dass sie durch den Bezug von Sozialhilfe ihren Aufenthalt in der Schweiz gefährden.
Unterschätzte Tragweite der Massnahmen
Welche Auswirkungen das gesetzlich verankerte Integrationsverständnis auf die sozialarbeiterische Praxis an der Schnittstelle zwischen Existenzsicherung, Integration und Aufenthaltsregelung hat, untersuchte Julia Hohl in ihrer Masterarbeit.
Interviews mit Vertreter*innen von Institutionen der betroffenen Handlungsfelder, darunter ein städtischer Sozialdienst, eine Rechtsberatungsstelle, die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe, Caritas Schweiz und AvenirSocial, haben deutlich gemacht, dass ausländerrechtliche Sanktionen bei Sozialhilfebezug streng angewendet werden und die Konsequenzen für sozialhilfebeziehende Ausländer*innen weitreichend sind. Gleichzeitig wurde im Verlauf der Analyse erkennbar, dass unter Fachpersonen Unsicherheiten bestehen, was die Umsetzung von ausländerrechtlichen Massnahmen bei Sozialhilfebezug betrifft. So sieht Julia Hohl eine zentrale Erkenntnis ihrer Untersuchung darin, dass die Tragweite und das Ausmass aufenthaltsrechtlicher Konsequenzen bis dato unterschätzt werden.
Fest steht: Die rechtsanwendenden Behörden verfügen über einen grossen Handlungsspielraum im Vollzug aufenthaltsrechtlicher Massnahmen bei Sozialhilfebezug. Mangelnde Transparenz seitens der Migrationsbehörden und fehlende Kenntnisse von Sozialarbeiter*innen über die komplexen rechtlichen Zusammenhänge führen zu Widersprüchen zwischen den Integrationsbemühungen und -anforderungen auf Sozialdiensten und der Entscheidungspraxis der Migrationsbehörden.
Integration als Kontroll- und Steuerungsinstrument
Hohl zeigt in ihrer Masterarbeit, wie die staatliche Integrationspolitik durch die Sanktionsmöglichkeiten im AIG zunehmenden Zwangs- und Disziplinierungscharakter erfährt, wobei Integration ausgerechnet bei jenen Personen am nachdrücklichsten eingefordert wird, deren Rechte am stärksten eingeschränkt werden. Die rechtliche Koppelung von Aufenthaltsregelung und Sozialhilfe greift das Recht auf Hilfe in Notlagen an und damit die Menschenwürde. Für Sozialarbeiter*innen in Regelstrukturen ist es anspruchsvoll, die soziale und berufliche Integration ihrer Klient*innen zu fördern, wenn gleichzeitig Verdachtsmomente gegenüber bestimmten Gruppen und Personen im Raum stehen. Vermehrter Nichtbezug von Sozialhilfe, Prekarisierung, Ausschluss und Irregularität als mögliche Folgen der aktuellen Migrations- und Integrationspolitik widersprechen dem gesellschaftlichen Auftrag der Sozialhilfe und drohen, die Massnahmen der staatlichen Integrationsförderung zu unterminieren.
Verfasserin: Julia Hohl, Masterabsolventin im Kooperationsmaster am Standort Luzern.
Der Artikel ist hier erstmals erschienen.