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#MiSA Studie: Kindesschutz: Wenn das Kind aus dem Fokus und der Vater ins Abseits gerät
Eine Kindeswohlgefährdung festzustellen, ist für die abklärenden Sozialarbeitenden anspruchsvoll. Selina Steinmann hat in ihrer Abschlussarbeit für den Master in Sozialer Arbeit Abklärungsberichte analysiert und festgestellt, dass oft nicht das Kind im Fokus steht, sondern in erster Linie die Mutter. Ein Grund dafür sind die Rollenbilder in den Köpfen der Abklärenden.
«Trotz zehn Jahren KESB sind Kindeswohlabklärungen bis heute uneinheitlich und wenig transparent», sagt Selina Steinmann. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin und führt Mandate im Kindesschutz. 2022 hat sie das Master-Studium in Sozialer Arbeit an der Hochschule Luzern abgeschlossen. In ihrer Master-Arbeit untersuchte sie Abklärungsberichte zu Kindeswohlgefährdungen und ging dabei der Frage nach, welches implizite Wissen in den Entscheidungsprozessen erkennbar ist.
Unreflektierte Rollenbilder entscheiden mit
Bis heute fehlten verbindliche Qualitätsstandards für Abklärungsprozesse, bedauert die junge Aargauerin, die einst Pflegefachfrau werden wollte – bis ihr bewusst wurde, dass sie Menschen mehr interessierten als Körper. Die analysierten Texte der Abklärenden seien alltagssprachlich gehalten und es scheine wenig sozialarbeiterisches Fachwissen durch. Steinmann konnte herausarbeiten, dass die Entscheidungsprozesse der Abklärenden vor dem Hintergrund eigener Rollenbilder, besonders jenem der familiarisierten Kindheit, abgehandelt werden. «Im Modell der modernen Familie ist nicht mehr vorgesehen, dass das Kind mehrere Sorgepersonen hat. Die Erziehung und Betreuung – und damit das Sicherstellen des Kindeswohls – wird vor allem der Mutter zugesprochen», erläutert Steinmann. «Der Vater wird oft erst als Sorgeperson in Betracht gezogen, wenn die Mutter ausfällt.» Erst wenn die Abklärenden die Mutter als nicht mehr erziehungsfähig ansähen, nähmen sie den Vater und das erweiterte soziale Unterstützungssystem (Grosseltern, freiwillige Angebote der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung wie Kitas usw.) in den Fokus. Das Ziel von Massnahmen sei stets, die Mutter so zu unterstützen, dass sie in ihrer Rolle handlungsfähig bleibe.
Fokus auf die Eltern statt auf das Kind
Vor diesem Hintergrund überrasche es nicht, dass sich alle analysierten Abklärungsberichte deutlich auf die Eltern und speziell auf die Mutter fokussierten, erklärt Steinmann. «Eine logische Folge davon ist die geringe Berücksichtigung des Kindes.» Die empfohlenen Massnahmen der Abklärenden zielten jeweils darauf ab, die Eltern und besonders die Mutter zu entlasten (Kita-Betreuung für das Kind) bzw. sie weiterzubilden (Mütter-/Väterberatung). «In den Erwägungen zur Einschätzung des Kindeswohls werden freiwillig installierte Massnahmen wie etwa eine Kita kaum in den Kontext der Kindeswohlgefährdung gesetzt. Es bleibt somit implizit, ob die installierten Massnahmen erforderlich sind zur Sicherung des Kindeswohls», zeigt sich Steinmann erstaunt. Der Grund dafür sei, dass der Analyseschritt der Prognose, ob das Kindeswohl ohne Massnahmen gefährdet wäre, in den Abklärungsberichten fehle. Auch Einschätzungen oder Aussagen aus Sicht des Kindes seien in den analysierten Berichten kaum zu finden. «Gemäss der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) sollten Kinder ab dem sechsten Lebensjahr angehört werden. In den untersuchten Berichten waren die Kinder zwar jünger, doch trotzdem hätte aus einer Kinderperspektive heraus argumentiert werden können. Es hat mich überrascht, dass solche Bezüge in den Berichten nur sporadisch zu finden waren», sagt Steinmann.
Professionalisierung vorantreiben
Sie betont, es sei eine anspruchsvolle Aufgabe, eine Kindeswohlgefährdung einzuschätzen. Das Kindeswohl – die Leitmaxime jedes Entscheids im Kindesschutz – ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und wird deshalb interpretationsabhängig und fallspezifisch ausgelegt. Aufgrund der Erkenntnisse aus ihrer Arbeit sieht Steinmann Veränderungsbedarf auf verschiedenen Ebenen. Auf der organisationalen Ebene plädiert sie für wissenschaftlich fundierte Methoden als Standard in den Abläufen, zum Beispiel das Berner und Luzerner Abklärungsinstrument, mit dem sie persönlich arbeitet. Sie möchte Berufskolleg:innen dazu ermutigen, sich zur Einschätzung des Kindeswohls auf solche Instrumente und damit auf fachliche Kriterien statt auf unbewusst vorhandene Rollenbilder zu stützen. «Als Abklärende sollten wir uns unserer eigenen Vorstellungen von guter Kindheit und gelungener Elternschaft bewusst sein, sodass wir sie nicht unreflektiert auf die Klientel anwenden», mahnt die 32-Jährige, die sich aktuell im CAS Kindesschutz weiterbildet. «Seit meiner Master-Arbeit spreche ich übrigens oft ganz bewusst als Erstes mit dem Vater. Und es ist mir sehr wichtig, die Kinder bzw. die Kinderperspektive während des Abklärungsprozesses in den Mittelpunkt zu stellen.»
Text: Eva Schümperli-Keller
Weitere Informationen zur Arbeit
Die Master-Arbeit von Selina Steinmann kann hier heruntergeladen werden
Transformation gestalten
Diese Abschlussarbeit ist im Rahmen des Masters in Sozialer Arbeit entstanden. Das Master-Studium ermöglicht Fachpersonen aus der Sozialen Arbeit eine optimale Positionierung für anspruchsvolle Aufgaben in Praxis, Forschung sowie Lehre und eröffnet neue berufliche Aussichten. Der Master in Sozialer Arbeit ist eine Kooperation der Fachhochschulen Bern, Luzern und St. Gallen. Neben den Basismodulen bieten die Standorte thematische Schwerpunkte zur individuellen Profilschärfung. Mit dem Projektatelier und der Forschungswerkstatt sowie in der Master-Arbeit können die Studierenden aktuelle Fragen aus der Praxis bearbeiten und ihre Forschungshandwerk erproben und schärfen.
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